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Interview Westdeutsche Zeitung: „Hier führt keiner!“

Redaktionsbesuch bei der Westdeutschen Zeitung: NRW-Unternehmerpräsident Arndt Kirchhoff u.a. über dringende Bedarfe der NRW-Wirtschaft sowie aktuelle Herausforderungen.

Herr Kirchhoff, Deutschlands Wirtschaftswachstum ist negativ, offenbar hakt es an allen Ecken und Enden. Wie kommen wir denn nun wieder heraus aus dieser Situation?

Arndt Kirchhoff: Wir haben mittlerweile sicher kein Erkenntnisproblem mehr. Und auch grundsätzlich keine Divergenz bei den Zielen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Es ist völlig klar: Wir alle wollen klimaneutral werden. Jetzt müssen wir uns fragen, wie wir das mit unserem Wohlstandsgerüst zusammenbekommen: Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze, soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Demokratie. Um es klar zu sagen: Das Einzige, was fehlt, sind klare Entscheidungen.

Keine neue Erkenntnis, oder?

KIRCHHOFF: Dieses Jahr musste eigentlich schon das Jahr der Umsetzung werden. Es muss gehandelt werden. Und ein Merkmal dieser Zeit ist, dass alles gleichzeitig passieren muss. Energiewende geht nur, wenn gleichzeitig Digitalisierung funktioniert. Sonst ist zum Beispiel das Netz nicht smart zu fahren. Auch für die Mobilitätswende ist das wichtig. Eigentlich ist die Diagnose immer dieselbe. Nur am Ende müssen wir feststellen: Hier führt keiner.

Sie meinen den Bundeskanzler Olaf Scholz.

KIRCHHOFF: Zumal der ja gesagt hat: Wer bei mir Führung bestellt, der bekommt Führung. Aber es hätten wohlgemerkt auch schon in der Regierungszeit von Angela Merkel Entscheidungen fallen müssen. Aber der Blick in den Rückspiegel bringt nichts.

"Das Einzige, was fehlt, sind klare Entscheidungen."

War Ihnen selbst das auch klar, als Sie des Öfteren bei Merkel am Tisch saßen?

KIRCHHOFF: Wir haben es immer wieder angesprochen. Ich habe Verständnis, dass es seit 2008 immer schwierige Lagen für die Politik gab, die auch hohe Priorität hatten und haben. Aber es hilft alles nichts: Warten können wir uns nicht mehr leisten, sonst verlieren wir immer weiter an Wettbewerbsfähigkeit. Wenn wir im Bundeskanzleramt über die Transformation sprechen, liegt ja auch alles ausbuchstabiert da: bei Windrädern, bei PV-Anlagen, bei Straßen und Schienen, bei Hydroliseuren, bei Wasserstoff – es ist völlig klar, was zu tun ist, um 2030 fertig zu sein. Jetzt ist nur noch die Frage: Wie werden wir schnell? Ich sage: Gesetze müssen her. Bis jetzt dauern Planungs- und Genehmigungsverfahren für größere Vorhaben zehn Jahre. Bis 2030 wollen wir aber aus der Kohle raus sein. Das sind nur noch sechs Jahre. Da kann man jetzt rückwärts rechnen, wie viele Gaskraftwerke man noch bauen muss, um das zu erreichen. Die Gaskraftwerke sind aber noch nicht einmal geplant. Geschweige denn genehmigt.

Wen sehen Sie in der Pflicht?

KIRCHHOFF: Wenn der Wirtschaftsminister Robert Habeck fragt, wieso das so lange gedauert hat mit dem Windrad in NRW, dann sage ich: Das liegt daran, dass jeder Bürger die Gelegenheit hat, für das Einzeltierchen Schutz zu schaffen. Dann sagt der Minister immer, dass er die Erhaltung der Art will, aber nicht des Einzeltiers. Und dann frage ich mich: Wer muss es denn jetzt ändern? Es ist der Justizminister. Ich könnte ihnen von Haselmäusen und Schnecken berichten, die alles aufhalten. Das ist Deutschland. Der Justizminister muss jetzt sagen: Rechtsweg, ja, aber wie oft? Er muss sagen: Erhaltung der Art, ja, aber nicht des Einzeltiers. Er muss sagen: Bürgerbeteiligung, ja, aber wie oft? Wir müssen diese Endlosschleifen jetzt eindämmen.

Ist das auch Ihre Diagnose für NRW?

KIRCHHOFF: Es läuft hier besser als im Bund. Die Landesregierung hat jetzt beim Windkraftausbau Tempo gemacht. Aber: Nun warten wir mal ab, wie schnell die Windräder gebaut werden. Die nächsten Fragen stellen sich doch schon: Was ist mit der Straße, die für den Schwerlastverkehr von 200 Meter hohen Windrädern geschaffen sein muss? Die können wir nicht über Wald- und Schotterwege fahren. So eine Straße muss man genehmigen. Und: Wie kommen denn die Komponenten dahin? Da braucht es Genehmigungen für den Schwertransport. Was ist mit dem Zement? Die Politik muss alles zusammen und unternehmerisch denken. Da mangelt es auch in NRW noch immer gewaltig.

Wer ist denn Ihrer Diagnose nach die Bremse?

KIRCHHOFF: Kürzlich hatte die Ampel für ihr Treffen in Meseberg Lösungen angekündigt. Haben Sie danach Lösungen gesehen? Ich nicht. Aber wir sind jetzt an einem Kipppunkt, der Kanzler wird jetzt entscheiden müssen. Die Wahlen in Hessen und Bayern sollten gezeigt haben, dass die Bürgerinnen und Bürger jetzt endlich Entscheidungen sehen wollen. Ich habe zuletzt den Eindruck gewonnen, dass Olaf Scholz das auch verstanden hat.

Kann Scholz die Transformation lenken?

KIRCHHOFF: Abseits der schwerwiegenden außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen, die jetzt zu treffen sind: Ich glaube schon, dass auch sein politisches Schicksal mit dem Erfolg der Transformation verbunden sein kann. Er muss jetzt anführen und den Startschuss geben.

Oft hat man den Eindruck, als nähmen die Unternehmerverbände vieles mit Langmut hin.

KIRCHHOFF: Wir sprechen die Dinge seit Jahren klar und deutlich an. Wir tun dies immer konstruktiv – etwa bei der Digitalisierung. Wir alle arbeiten zuhause oder bei uns in den Unternehmen digital. Beim Staat machen wir es aber nicht. Auch beim Gesundheitswesen nicht. Wo ist der gemeinsame Standard? Wo ist die elektronische Patientenakte? Die 56 Gesundheitsämter sind bis heute nicht digital angeglichen. Weil keiner sagt: Das wird jetzt gemacht! Das geht so nicht. Das muss einer vorgeben.

"Wenn wir unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat erhalten wollen, müssen wir auch wachsen."

Ist das eine Schwäche der Demokratie bei solch großen Bedarfen an Transformation?

KIRCHHOFF: Ein klares Nein! Wir müssen ja wohl nicht über Diktaturen wie Nordkorea oder Russland sprechen. Autokratien sind auch nicht besser aufgestellt, wenn es um Dynamik geht. Nein, wir wollen doch lieber Demokratie, Mitsprache, keinen Dirigismus. Das ist das Modell des Westens. Aber die ganze Welt muss jetzt transformieren. Wir leben dabei in der großen Konkurrenz der Systeme. Und wenn wir zurecht der Überzeugung sind, dass unser System das beste ist, dann sollten wir schon sehen, dass wir mit unserer Ordnung in der Gegenwart nicht zu langsam sind und den Zug nicht verpassen. Es muss doch gerade als Demokratie möglich sein, einen Prozess aufzulegen, in dem wir rechtzeitig die notwendigen Entscheidungen treffen. Wenn wir unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat erhalten wollen, müssen wir auch wachsen. Dann können wir auch fair teilen.

Gelingt es Unternehmern besser zu priorisieren als dem Staat?

KIRCHHOFF: Unternehmen haben Agenden. Eine Dekarbonisierungs-Agenda zum Beispiel. Eine Digital-Agenda. Auch eine Strategie, wie man resilienter wird, also Abhängigkeiten reduziert. Das ist eine Lehre der vergangenen Jahre. Da reagieren wir mit Politik zusammen: Wir bauen Chipfabriken in Europa, Batteriefabriken, LNG-Terminals, Hydroliseure, Pipelines. Wir sortieren die Welt neu, damit wir wieder ein funktionierendes Geschäftsmodell haben.

Und uns unabhängiger zum Beispiel von China machen.

KIRCHHOFF: Es wurde ja schon über ein sogenanntes Decoupling diskutiert. Da sage ich: Besser mal kein Decoupling. Unser Handel bindet uns doch gegenseitig aneinander. Ich falle vom Hocker, wenn hier überlegt wird, dass wir auf chinesische Autos Strafzölle verhängen wollen. Ich warne vor einer Spirale des Protektionismus. Ich verstehe auch hierzulande die wirtschaftliche Angst vor China nicht. Mal ein Beispiel aus der Automobilindustrie: Wir sind nur ein Prozent der Weltbevölkerung, bauen aber 20 Prozent der Autos auf der Welt. Davon die meisten im Ausland. Und wir machen 30 Prozent des Umsatzes über den Autohandel. Das liegt daran, dass wir die Premiumklasse bedienen. Die deutsche Autoindustrie baut weltweit 90 Prozent der Autos aus der Premiumklasse. Das ist das, was wir können. Und das sollten wir uns auch erhalten. Die gesamte deutsche Industrie profitiert davon – und damit Millionen Beschäftigte allein in der Automobilwertschöpfungskette. Man muss sich gut überlegen, ob man sich aus politisch-moralischen Gründen alle Absatzmärkte zerstört. Das ist der Politik manchmal schwierig zu vermitteln.

Sehen Sie an der Stelle ein Außenministerinnenproblem?

KIRCHHOFF: Ich nehme wahr, dass Frau Baerbock verstanden hat, dass wir nicht der Lehrmeister der Welt sein sollten. Sie muss natürlich unsere Werte vertreten, aber auch akzeptieren, dass sich nicht alle nach uns richten werden. Es gibt nun mal unterschiedliche Systeme auf der Welt.

Das Lieferkettengesetz beschäftigt die Unternehmen. Ist das durchzuhalten?

KIRCHHOFF: Das ist das Thema Bürokratie, mit der Europa und Deutschland überzogen werden. Das muss sofort aufhören. Wir verwalten uns zu Tode. Allein wie viele Beamtenstellen wir seit der Pandemie nur deshalb neu aufgebaut haben, weil wir nicht digitalisiert sind. Da muss jetzt ganz dringend einer den digitalen Standard entscheiden. Und danach müssen die Leute dort wieder rausgenommen werden. Sie werden sicher dringender für andere Aufgaben gebraucht.

Das wäre das erste Mal, dass sich in Deutschland das Bürokratiemonster freiwillig auf Diät setzt.

KIRCHHOFF: Mut für jeden Bürgermeister oder Landrat bedeutet, einem Verwaltungsmitarbeiter zu sagen: Du gehst jetzt bitte in die Genehmigungsabteilung für Schwerlasttransporte, da brauchen wir dich nämlich dringend. Und hältst hier nicht Verfahren auf. Dafür brauche ich am Ende einen gesellschaftlichen Konsens. Und dafür muss das einer erklären. Und erklären muss Politik. Ich war mal in Brüssel Vorsitzender des Mittelstandsausschusses von Business-Europe. Damals hat die EU feste Regeln für Bürokratieabbau beschlossen: „One in, one out“, also eine neue Vorschrift nur dann, wenn eine alte rausgenommen wird. Oder Auslaufdaten für neue Vorschriften. Das steht auch alles in neuen Koalitionsverträgen. Aber gemacht wird es nicht. Da muss der Behördenleiter sagen: Ihr habt hier zwei Gesetze, wo sind die zwei, die dafür wegfallen?

"Den Brückenstrompreis brauchen wir dringend."

Sie haben für einen Industriestrompreis geworben. Ist der noch realistisch?

KIRCHHOFF: Den Brückenstrompreis brauchen wir dringend, sonst sind unsere Wertschöpfungsketten insbesondere in NRW massiv gefährdet. Gleichzeitig muss die Besteuerung von Strom sofort auf das europäische Niveau herunter gelevelt werden. Stahl, Chemie, Glas, Zement, Papier, Aluminium – das alles gibt es in NRW, das ist energieintensiv. In Frankreich ist der Strom ein Drittel billiger, von Amerika rede ich erst gar nicht, da kostet er weniger als ein Drittel. Bei den Energiekosten ist der Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig. Und wir sind in dieser Situation, weil Politik das über Atom- und Kohlestrom oder verweigertes Fracking entschieden hat. Dann kann ich nur sagen: Politik, bring‘ uns da mal wieder raus.

Wie akut ist die Gefahr, das Unternehmen in NRW abwandern?

KIRCHHOFF: Sie ist ganz akut. Solange zum Beispiel die Stahlerzeugung hier subventioniert wird, muss die Produktion natürlich in NRW bleiben. Aber gleichzeitig werden wir dafür riesige Mengen an Wasserstoff erzeugen müssen. Wenn der Energiepreis hierfür zu hoch bleibt, werden sie sich aber überlegen, ob das in NRW so weitergehen kann.

Die Politik stöhnt über den amerikanischen Inflation Reduction Act. Muss es eine europäische Antwort geben?

KIRCHHOFF: Europa hat mit der Pandemie doch selbst 670 Milliarden für Klima und Transformation ins System gegeben. Der Unterschied ist: In Amerika ist das technologieoffen. In Europa nicht. Wir bevormunden unsere Ingenieure. Wenn wir sagen, dass es den Diesel nicht einmal mehr geben darf, wenn er CO2-neutral unterwegs ist, dann sind wir doch völlig falsch unterwegs. Amerika ist ein freies Land, das wirklich technologieoffen ist. Europa ist ein Kontinent, der zum Teil ideologisch beherrscht Entwicklung behindert oder verbietet. Das sollte Europa ändern. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir in Deutschland technologieoffen zu unserem Wohlstand gekommen sind. Das ist nach wie vor unsere Stärke: Wir haben in Deutschland in der Entwicklung der E-Mobilität aktuell weltweit 50 Prozent aller Patente, beim autonomen Fahren sogar 80 Prozent. Das müsste für die nächsten Jahrzehnte reichen. Aber wir müssen das auch dürfen und nicht politisch verhindern.

Der Finanzminister sagt, Deutschland sei in seiner Substanz stark.

KIRCHHOFF: Aber wie lange noch? Man sollte in der jetzigen Phase alles unterlassen, was zusätzliche Belastung schafft. Deswegen sollte die Politik mal aufhören mit all den Vorhaben, die da noch auf dem Tisch liegen. Wir verlieren sonst auch den Bürger.

Welche meinen Sie?

KIRCHHOFF: Arbeitszeitgesetze, Tariftreuegesetz, Hinweisgeberschutzgesetz – alles das bringt zusätzliche Bürokratie. Dazu die völlig unnötige Debatte über eine weitere Arbeitszeitverkürzung.

Erfreuen Sie sich an der NRW-Regierung aus CDU und Grünen?

KIRCHHOFF: Ich finde gut, dass hier geräuschlos regiert wird und sich die Partner nicht auseinanderdividieren lassen.

Das reicht Ihnen schon?

KIRCHHOFF: Bei der Windkraft und auch in vielen anderen Bereichen reicht das Tempo noch nicht. Und wenn oft nach Berlin gezeigt wird, dann sage ich: Es gibt ausreichend Projekte, die ihr hier in NRW selbst machen könnt. Planungs- und Genehmigungsbehörden zum Beispiel neu ordnen, wenn es um das Bauen geht. Das Durcheinander zwischen Landtag, Bezirksregierungen und Kommunen lässt sich sicher auch beschleunigen. Da geht noch viel mehr, auch in NRW.

Autoren: Lothar Leuschen und Olaf Kupfer

Das Interview mit dem Präsidenten von unternehmer nrw erschien am 25. Oktober in der Print-Ausgabe der Westdeutschen Zeitung.

Online: NRW-Unternehmerpräsident Kirchhoff: „Hier führt keiner!“