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Interview Rheinische Post: „Der Kohleausstieg 2030 ist illusorisch“

NRW-Unternehmerpräsident Arndt Kirchhoff spricht u.a. über den Umbau der Energieversorgung. Wenn NRW Industrieland bleiben will, müsse die Landesregierung alle Hebel in Bewegung setzten.

Die Ampel hat die E-Auto-Prämie über Nacht gekippt. Wie verärgert sind Sie?

Kirchhoff Der Ärger ist verständlicherweise groß. Denn hier hat sich die Politik im Bund leider nicht als verlässlicher Partner erwiesen. Viele Bürger haben im Vertrauen auf die Prämie ein E-Auto bestellt. Die bleiben jetzt auf Tausenden Euro sitzen. Das schadet auch dem Ansehen von Politik insgesamt.

Sozialpolitisch war das aber ohnehin eine unsinnige Förderung, denn sie hat Wohlsituierte begünstigt.

Kirchhoff Grundsätzlich bin ich kein Freund von Subventionen. Aber wir müssen diese Förderung auch im europäischen Kontext sehen. Andere Länder wie etwa Frankreich helfen den Bürgern ja auch beim Umstieg auf alternative Antriebsarten. Die Franzosen fördern übrigens nur französische E-Autos.

Anders ausgedrückt: Die deutsche E-Auto-Prämie war eigentlich eine Subvention für ohnehin schon günstigere Fahrzeuge aus China.

Kirchhoff Dass chinesische E-Fahrzeuge per se günstiger sind als unsere, stimmt so nicht. In dem Segment, das vergleichbar mit den westlichen Standards ist, sind die Preise nahezu identisch. Natürlich gibt es da im Billigbereich „Smartphones auf Rädern“ für 10.000 Euro, bei denen ich meine Zweifel hätte, dass diese überhaupt aufgrund unserer hohen Sicherheitsstandards auf dem europäischen Markt zugelassen werden dürften.

Also keine Angst vor Billig-Konkurrenz aus China?

Kirchhoff Nein, diese Fahrzeuge werden auf absehbare Zeit nicht auf unseren Straßen rollen. Die mögen toll sein, was das Infotainment-Angebot angeht, aber ansonsten sind das eher Fahrprothesen, die mit der Qualität von Kleinwagen etwa westlicher Hersteller nicht vergleichbar sind.

Neben der Verkehrswende hapert es auch bei der Energiewende. Wie zuversichtlich sind Sie, dass der Kohleausstieg 2030 gelingt?

Kirchhoff Mir fehlen da die konkreten Maßnahmen zur Zielerreichung. 2030 ist ja schon bald. Aber wo sind denn die Gaskraftwerke, die wir zwingend brauchen, damit wir bei Dunkelflaute Strom bekommen? Robert Habeck sprach von 40 bis 60 Gaskraftwerken. Und er hat versprochen, dass die Genehmigungen noch 2023 erfolgen. Sagen wir es mal so: Das Jahr ist jetzt zu Ende. Und selbst wenn sie wider Erwarten im kommenden Jahr zügig genehmigt würden, wird das für den Ausgleich eines Kohleausstiegs 2030 immer noch sehr, sehr sportlich.

Klingt so, als glaubten Sie nicht mehr an den Termin 2030.

Kirchhoff Ohne die Gaskraftwerke ist der Termin illusorisch. Ich habe selbst jahrelang Kraftwerke gebaut und weiß um die Komplexität. Ich halte das Ziel für extrem ambitioniert. Wenn man das ernsthaft will, dann müssen Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich gestrafft werden. Heute kann ja jedes Infrastruktur-Projekt mit Verweis auf Feldhamster, Quellschnecke oder Rotmilan bis zum Sankt Nimmerleinstag behindert werden. Man kann den Gerichten da kaum einen Vorwurf machen. Ich erwarte aber von der Politik, dass sie endlich Wort hält und die Gesetzeslage anpasst. Bürgerbeteiligung ja, Rechtsweg ja, aber nicht in Dauerschleife. Ich erlebe aber nach wie vor nicht, dass die Politik daran ernsthaft arbeitet.

Müsste das Land mehr Druck machen – etwa über den Bundesrat?

Kirchhoff Ja, wenn wir in NRW Industrieland bleiben und unsere Wertschöpfungsketten behalten wollen, müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden. Und die Landesregierung muss sich notfalls abkoppeln, wenn es im Geleitzug mit dem Bund nicht ordentlich funktioniert.

Wie groß ist die Gefahr der De-Industrialisierung in NRW?

Kirchhoff Die ist riesig. Die Lage ist ausgesprochen ernst. Insbesondere in den energieintensiven Branchen wie etwa Stahl-, Chemie-, Papier-, Aluminium-, Glas- und Zementindustrie oder in den Gießereien. Und das geht weit in den industriellen Mittelstand hinein.

Muss man nicht einfach akzeptieren, dass der Stahl andernorts günstiger produziert wird und deshalb allenfalls noch bei uns weiterverarbeitet wird?

Kirchhoff Dass wir die gesamte Wertschöpfungskette hier haben, ist unser Alleinstellungsmerkmal im Standort-Wettbewerb und deshalb schon extrem wichtig. Wir wollen keine Abhängigkeiten von China oder Indien. Außerdem darf uns das Know-how nicht verloren gehen. Die Politik muss sich klar machen, dass wir nur dann Nachahmer in der Welt finden, wenn die Transformation hierzulande gelingt.

Aber die Branchen werden nur mit Hilfe von Subventionen am Leben gehalten. Thyssenkrupp will nicht nur, dass der wasserstoffbetriebene Hochofen finanziert wird, sondern die operativen Kosten abgefedert werden. Das kann nicht ewig so weitergehen. 

Kirchhoff Alle Pioniere beim grünen Stahl wurden staatlich gefördert. Anders wird es nicht gehen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass da auch immer noch eine große Zahl von Arbeitsplätzen dranhängt, rund 60.000 beim Stahl und viele Hunderttausend in der Wertschöpfungskette. Alles hängt mit allem zusammen.

Und in dieser Situation kam noch die IG Metall mit einer Forderung nach einer 32 Stunden Woche um die Ecke.

Kirchhoff. Deutschland arbeitet schon jetzt am kürzesten. Wie wir das demografische Problem mit noch kürzeren Arbeitszeiten lösen wollen, muss mir auch noch mal einer erklären. Deshalb dazu nur so viel: Auch die Tarifpolitik muss ihren Beitrag leisten, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. Außerdem werden wir eine gesellschaftspolitische Debatte über die Länge der Lebensarbeitszeit führen müssen.

Wie soll das Renten-System stabilisiert werden?

Kirchhoff Unser umlagefinanziertes System kann nur gestützt werden, indem die Menschen entsprechend der höheren Lebenserwartung auch länger arbeiten. Wir sollten den Renteneintritt an das gestiegene Durchschnittsalter koppeln. Wir müssen uns klar machen, dass sich dieser dann langfristig in Richtung 70 bewegen wird. Natürlich müssen wir genau hinschauen: Es gibt Berufe, da geht das nicht. Es geht auch nicht um den 65-jährigen Dachdecker. Das muss man dann individuell gestalten. Wir müssen zugleich Anreize schaffen, dass Menschen auch länger arbeiten wollen. Diese sind noch viel zu gering und sollten dringend ausgeweitet werden.

Braucht es eine Neuauflage der Agenda 2010?

Kirchhoff Der Staat ist gar nicht mehr in der Lage zu investieren, weil er viel zu viel Geld für konsumtive Ausgaben nutzt. Zugleich haben wir mit der Zeit einen riesigen Verwaltungsapparat aufgebaut. Die Wirtschaft baut dagegen dank Digitalisierung überall Verwaltungskapazitäten ab. Dieser technische Fortschritt geht offensichtlich völlig an den Behörden vorbei. Wir werden in diesem Land von der Bürokratie zu Tode verwaltet. Die Lösung muss sein: Wir könnten Verwaltungsmitarbeiter an anderer Stelle viel besser einsetzen – etwa in Genehmigungsabteilungen für Schwerlasttransporte oder gern auch in der freien Wirtschaft.

Derzeit wird viel über das Bürgergeld gestritten. Ist es aus Ihrer Sicht zu hoch?

Kirchhoff Das Lohnabstandsgebot droht ausgehebelt zu werden. In manchen Branchen sagen bereits die ersten Mitarbeiter: „Ich komme morgen nicht mehr, das lohnt sich für mich nicht mehr.“ Wer arbeitet, muss Miete, Heizung und Strom aus der eigenen Tasche bezahlen. Wer aber Bürgergeld bezieht, kriegt Miete und Heizung erstattet. Wir müssen wieder dahinkommen, dass der gesellschaftliche Kitt funktioniert. Im Augenblick driften wir auseinander. Auch deshalb muss beim Bürgergeld korrigiert werden.

Muss der Staat sich von der Schuldenbremse verabschieden?

Kirchhoff Die Schuldenbremse muss gelten, denn die Einnahmen des Staates steigen ständig. Aber wir müssen schon überlegen, wie wir Mittel für Investitionen in die Transformation hinbekommen. Unsere Infrastruktur ist veraltet, wir brauchen Glasfaser, Straßen, Schienen, Wasserwege. Für den Aufbau Ost, die Corona-Pandemie und die Folgen des Ukrainekriegs wurden Sondertöpfe geschaffen. Und das benötigen wir jetzt auch wieder für klar definierte Transformations-Projekte. Wir müssen beim Ausbau der erneuerbaren Energien Tempo machen, denn das ist der einzige Weg, um den Strompreis in den Griff zu bekommen. Ein solches Sondervermögen hilft auch den kommenden Generationen. Denn wenn wir diese notwendigen Investitionen nicht hinkriegen, erben unsere Kinder und Enkel ein unvorbereitetes, kaputtes Land.

Angesichts der AfD-Umfragen hat Evonik-Chef Kullmann jüngst beklagt, dass die Wirtschaft sich nicht klar genug dagegenstellt?

Kirchhoff Die Umfragewerte der Rechtspopulisten lassen uns alle nicht unberührt. Ich sage klar und deutlich: Kein Unternehmer will eine Systemveränderung, Abschottung oder Ausgrenzung. Wir kämpfen nicht nur für soziale Marktwirtschaft, sondern auch für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wir machen keine Parteipolitik. Aber das sind unsere Werte. Und dafür müssen wir auch einstehen.

Die AfD könnte aber zu einem Standortnachteil werden. Müsste sie verboten werden?

Kirchhoff Das muss der Verfassungsschutz beurteilen. Natürlich schauen die Unternehmen auf die politischen Verhältnisse in den Ländern, in denen sie investieren. Grundsätzlich gilt: Für Unternehmen gehört bei Standort-Entscheidungen ein Risikomanagement immer dazu – besonders natürlich bei Investments in autokratischen Systemen. Wir in unserem Unternehmen investieren an diesen Standorten immer nur so viel, dass wenn wir morgen enteignet werden, unser Unternehmen insgesamt nicht darunter leidet. Das ist uns übrigens in St. Petersburg passiert. 

Sie kommen aus einer Region, die stark von der Brückensperrung der Rahmedetalbrücke getroffen wurde. Wie groß ist der Frust?

Kirchhoff Wir haben unsere Verkehrsinfrastruktur jahrzehntelang vernachlässigt. Das rächt sich jetzt. Die eigentliche Katastrophe war, dass wichtige Entscheidungen zur Sprengung und zum Neubau Ewigkeiten gedauert haben. Diese Trägheit können wir uns in der heutigen Zeit nicht mehr leisten. Die wirtschaftlichen Schäden insbesondere in Südwestfalen durch Rahmede sind immens.

Und es ticken bereits weitere Zeitbomben. Die Liste der Bröckelbrücken in NRW ist lang.

Kirchhoff Völlig richtig. Und es sind nicht nur die großen Brücken, sondern auch viele kleinere. In einem Fall mussten wir zuletzt feststellen, dass sich beim Planungsstand ein Dreivierteljahr anscheinend nichts getan hat. Das geht so nicht. Auch Verkehrsminister Krischer muss hier insgesamt mehr Druck machen. Die Baukapazitäten, die früher einmal das Problem waren, sind doch wieder vorhanden. Und mit modularen Fertigteilen kann vieles bedeutend schneller gehen.

Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf der Landesregierung?

Kirchhoff Das Thema Schule treibt mich um. Die Schulministerin weiß, dass wir zwei verlorene Corona-Jahre aufholen müssen. Es bedarf eines Neustarts. Wir können es uns nicht leisten, Kinder mit massiven Schwächen in den Grundrechenarten, beim Lesen, Schreiben und Hören einfach so weiter durchs Schulsystem zu schleifen. Die Inhalte der zwei fehlenden Jahre müssen nachgeholt werden. Punkt. Es nützt ja nichts, wenn ich in Klasse 9 das Einmaleins drannehme. Da ist jetzt Führung von der Politik gefordert. Und das Ganze übrigens in einer Situation, in dem unser Schulsystem ohnehin vielfach nicht mehr die gewünschten Ergebnisse liefert. Das sehe ich auch an den Ergebnissen unserer Lehrlingstests. Die sind teilweise erschreckend, sie sind schleichend immer schlechter geworden.

 

Das Interview ist am 29. Dezember 2023 erschienen in der Print-Ausgabe der Rheinischen Post.

Und Online hier: https://rp-online.de/nrw/landespolitik/unternehmerpraesident-kirchhoff-stellt-kohleausstieg-infrage_aid-103841951